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“Song [sung]” - das Loslassen ...

... das Loslassen, als wichtigstes Prinzip des Tai-Chi Ch’uan Nachstehende Texte über das Thema Loslassen aus der Sicht des daoistischen Übungssystems Tai-Chi Ch’uan findet Ihr in dem Buch von Wolfe Lowenthal “
Es gibt keine Geheimnisse, Professor Cheng Man-Ch’ing, und sein Tai-Chi Ch’uan
“, den Kapiteln 3 und 4 entnommen und für Interessierte hier eingestellt.
Viel Spaß beim Lesen und auch erfolgreiches Anwenden.
Cheng Man-Ch’ing, Es gibt keine Geheimnisse, Kapitel 3
Das erste und wichtigste Prinzip des Tai-Chi Ch’uan ist „Loslassen“.
Ohne Entspannung und Loslassen gibt es kein Tai-Chi. Die erste Lektion, die Professor Cheng Man-ch’ing jeder Anfängergruppe erteilte, behandelte immer die außerordentlicher Wichtigkeit des „Loslassens“.
“Der ganze Körper muß entspannt, locker und offen sein, so daß das Chi, die Lebensenergie, ihn ohne Behinderung durchdringen kann. Das ist das wesentliche Prinzip des Tai-Chi, sowohl im Sinne einer Gesundheitsübung
als auch im Sinne eines Systems der Selbstverteidigung.“ Später im Unterricht, als wir die ersten Schritte in Richtung Entspannung und Loslassen machten, führte er dieses Konzept noch weiter aus.
Entspannung sagte er, bedeutet nicht, daß man einfach schlaff werde. Sie soll eine gewisse lebendige Qualität haben. Der Anfänger muß sein Augenmerk vollkommen auf das Aufgeben aller Anspannung
und harten Muskelkraft richten. Darauf aufbauend soll er klar zwischen dem Schlaff-Werden und der Entspannung, wie wir sie zum Beispiel an einer Katze beobachten, unterscheiden.
Während das eine leblos ist, zeigt das andere vollkommene Vitalität und Wachsamkeit. Haben wir die erste Stufe des „Nur-Loslassens“ erreicht, dann treffen wir auf das „Substantielle in der Entspannung“.
Auch bei den Partnerübungen (Tuishou) achte der Anfänger darauf, allen Widerstand und jegliche harte Muskelkraft aufzugeben. Sanft und empfänglich geworden für das Chi, den Fluß der Energie, erkennt er
immer deutlicher, daß entspannen und loslassen nichts damit zu tun haben, wie Gelee zu werden. Vielmehr ist das Ziel, so beschrieb der Professor es,
ähnlich wie ein Ballen Baumwolle, sanft, aber umso solider und fester zu werden, je mehr man ihn zusammendrückt. Selbst eine Gewehrkugel kann einen Ballen
Baumwolle nicht durchdringen; sie wird von der in der Sanftheit enthaltenen Festigkeit, dem Substantiellen, absorbiert. Darüber hinaus ist festzustellen,
daß wirkliche Entspannung, im Gegensatz zu Anspannung und harter Muskelkraft (Li), die Qualität des „Schweren“ beinhaltet. Das chinesische Schriftzeichen Sung, das gewöhnlich mit „entspannen“
übersetzt wird, bedeutet wörtlich „Lockerheit“. Wenn das Schultergelenk in seiner Beweglichkeit so eingeschränkt ist wie eine Türangel, die geölt werden muß, können sich Arme und Schultern nicht frei bewegen;
sie sind nicht-Sung. Ein Arm der locker ist und durchlässig – Sung – ist, kann von einem Gegner nicht durch Blockieren der Gelenke bewegungsunfähig
gemacht werden, er wird sich (im Rahmen der physiologischen Möglichkeiten) frei hin und her bewegen lassen wie ein Stück gekochte Spaghetti. Dasselbe trifft auf den Geist zu. Solange noch irgendeine Vorsätzlichkeit
oder fest vorgefaßte Meinung besteht, ist der Geist nicht frei, im Zustand von nicht-Sung. Yang Chengfu, der der Meister von Professor Cheng Man-ch’ing war, sagte immer, daß die Qualität des Geistes
so weit und so allumfassend wie die Ausdehnung des Universums sein sollte.
Cheng Man-Ch’ing, Es gibt keine Geheimnisse, Kapitel 4
Das Prinzip des Loslassens war für Cheng Man-ch’ings Lehrer Yang Chengfu
von großer Bedeutung, daß er zu seinen Schülern mehr als tausendmal am Tag das Wort „loslassen“ gesagt haben soll. Auch Professor Cheng sprach sehr oft
vom Loslassen, aber es gab ein Wort, das in seinem Unterricht sogar noch häufiger fiel: „Schritt für Schritt, Schritt für Schritt“. Geduld und Tai-Chi. Übt man beständig die Prinzipien, wird es irgendwann
zur Vollendung kommen. Man kann jedoch nichts erzwingen; man kann nichts aktiv dazu beitragen, daß es geschieht. „Schritt für Schritt, Schritt für Schritt“. Man muß geduldig sein.
Andererseits kann ein Schüler, der zuwenig übt, nicht erwarten, daß der Erfolg wie Manna vom Himmel herabfällt. Ausdauerndes Bemühen ist nötig. Offenbar ein Widerspruch: „Erzwinge nichts“, und doch: „Streng Dich an!“
Im Tai-Chi lernen wir Nicht-Handeln, Wuwei, jenes Handeln, das kein aktives Tun ist. Eigentlich ist dieses Nicht-Handeln gar nicht geheimnisvoll.
Jeder hat es schon einmal in mehr oder weniger intensivem Ausmaß erlebt: Wir bemühen uns zum Beispiel sehr darum, etwas zu kreieren. Aber je mehr wir uns anstrengen, desto mehr weicht es zurück,
bis wir schließlich aufgeben. Mit etwas Glück stoßen wir dann auf eine Quelle inneren Wissens, die uns tief durchatmen, loslassen und entspannen lässt.
Und plötzlich scheint uns zuzufliegen, was wir ursprünglich mit aller Anspannung erreichen wollten. Es fällt uns in den Schoß wie ein Geschenk des Himmels oder genauer als ein Geschenk des Himmels.
Wir müssen Geduld lernen, Warten lernen; jedoch muß dieses Warten in der rechten Art und Weise geschehen, durch den schöpferischen Prozeß des Nicht-Handelns. So machen wir uns empfänglich für das Fließen des Chi
in unserem Körper und den Strom des Tao in unserem Leben. Die Methode beruht darauf, Blockierungen zu beseitigen. Es gibt nichts, was wir tun müssen. Alles, wonach wir suchen, existiert bereits.
Es geht darum, loszulassen und so die Blockierungen aufzulösen, damit es zum Vorschein kommen kann. In der Form des Tai-Chi Ch’uan und bei den Partnerübungen (Tuishou) geht es darum,
alle Anspannung und harte Muskelkraft (Li) aufzugeben, wodurch die unzähligen Energiebahnen (Meridiane) in unserem Körper für den Fluß der Energie, des Chi geöffnet werden.
Und für das Tao, den Weg in unserem täglichen Leben gilt, daß wir lernen müssen, uns nicht mehr in seinen Lauf einzumischen. Nehmen wir als Beispiel
einen Schriftsteller. Begriffe wie Inspiration und Muße beschreiben ebenfalls die Energie des Tao. Der Schriftsteller kann Inspiration nicht erzwingen.
Erst wenn er gelernt hat, alle Ängste und Phantasien, welche die kreative, schöpferische Gegenwart verdunkeln, loszulassen, wenn er lernt, sich selbst
nicht mehr im Weg zu stehen, wird er entdecken, daß er gleichsam zum Sprachrohr jener Wahrheit wird, die tief in seinem Inneren ruht. Es ist ziemlich schwer zu lernen, wie man entspannt und loslässt;
es erfordert Ausdauer, Beharrlichkeit und Zuversicht. „Schritt für Schritt, Schritt für Schritt“.
von Wolfe Lowenthal

“ Es gibt keine Geheimnisse, Professor Cheng Man-Ch’ing, und sein Tai-Chi Ch’uan“, ISBN 3-928288-05-9
ein weiterer Text zu
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- “Sung [song]
” –
aus Dr. Yang’s “Roots of Chinese Qigong”
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